Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Wer war Maria?
Weihnachten 2007

 

Liebe Gemeinde,

es gibt Fragen, die begleiten einen über viele Jahre. Für mich ist eine dieser Frage: Wer war Maria?

Es war vor über zwanzig Jahren, in Marburg, im Hörsaal, ich junger Theologiestudent. Den Titel der Vorlesung weiß ich gar nicht mehr. Jedenfalls stellte mein geschätzter Lehrer Wilfried Härle in irgendeinem Zusammenhang die Frage: Was war das eigentlich für eine Frau, die Mutter Jesu? Was war das für eine Frau, die diesen Sohn bekommen und großgezogen hat?

Er fragte nach dem Menschen Maria, deren Sohn Jesus später als Heiland und Verkünder des Evangeliums bekannt wurde und dessen Geburt wir heute feiern. Diese Frage hat sich mir tief eingeprägt und beschäftigt mich bis heute. Über alle möglichen Personen der Weihnachtsgeschichte habe ich in den letzten zehn Jahren gepredigt, über die Hirten, den Wirt, König Herodes und Kaiser Augustus, über Joseph natürlich auch. Aber um Maria habe ich bislang immer einen Bogen gemacht, vielleicht wohl wissend, dass ich für mich eine Antwort finden müsste auf die Frage, die mich schon so lange begleitet: Wer war Maria?

Eigentlich schon eigenartig, denn die Antwort scheint einfach: Maria war die Mutter Jesu, von ihr erzählt die Weihnachtsgeschichte des Lukas genauso wie die des Matthäus. Doch legen wir die beiden Weihnachtsgeschichten nebeneinander, ist alles nicht mehr so einfach, denn sie passen nicht zusammen. Es zeigt sich vielmehr bei näherem Hinsehen, dass es zwei Legenden sind, die zwar ihren Sinn und Wert bis heute besitzen, aber die Frage nach Maria nicht beantworten.

Es ist ja auch schwierig. Keine andere Gestalt aus dem Umfeld Jesu ist in den letzten zweitausend Jahren stärker betrachtet, überhöht, mythologisiert, verfremdet worden. Niemand ist - von Jesus abgesehen - häufiger bildlich dargestellt worden, sei es in Skulpturen, sei es auf Leinwand, sei es auf Kirchenfenstern. All das vernebelt uns den Blick auf Maria. Sie war die Jungfrau aus dem Neuen Testament, die Gottesgebärerin der Alten Kirche, Fürsprecherin der Gläubigen, Mittelpunkt der Anbetung. Sie wurde verklärt, in den Himmel gehoben als Königin. Sie wurde wieder herunter geholt, zunächst von den Reformatoren, später auch von feministischen Theologinnen. Maria: tausendfach in Kirsch gegossen, auf Wappen verewigt, in Liedern besungen, auf unzähligen Bildchen abgedruckt, millionenfach als Krippenfigur Jahr für Jahr aufgestellt. All das macht die Antwort nicht leicht auf die Frage: Wer war Maria?

Ehrlich müssen wir sagen: viel wissen wir nicht über sie. Klar ist nur: wenn Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott war und ist, wie das Konzil von Chalcedon 451 feststellte, dann war Maria eine Mutter wie jede andere auch. Sie hat ihn gestillt, die Windeln gewechselt, nachts getröstet und tags erzogen. Und hatte bis zu Jesu Tod eine Beziehung zu ihm, wenn auch keine einfache. Und das ist viel, denn von Josef, dem Vater, hören wir nichts mehr nach der Weihnachtsgeschichte.

Und weiter möchte ich dem jüdischen Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin auf seiner Spurensuche in dem kleinen Büchlein "Mutter Miriam" folgen. Er trägt die biblischen Stellen zusammen und kommt zu folgenden, mehr oder weniger gesichert scheinenden Aussagen über Maria:

Vieles spricht dafür, dass Maria eine jüdische Frau aus einfachen Verhältnissen war. Ihr Mann, Josef, war Handwerker, vermutlich Zimmermann und stirbt wohl bereits vor dem öffentlichen Auftreten Jesu. Jesus war ihr Erstgeborener, aber sie bekam nach ihm noch mindestens fünf Söhne (deren Namen wir aus den Evangelien kennen) und eine unbekannt Zahl an Töchtern. Auch wenn die Familie kein großes Einkommen besaß, muss Maria eine gebildete Frau gewesen sein. Da die Erziehung weitgehend in den Händen der Mütter lag, wird sie es gewesen sein, die Jesus unterrichtet hat, neben all der anderen Arbeit. Denn dass Jesus zumindest lesen, wenn nicht auch schreiben konnte, wird aus den Evangelien erkennbar. Maria wird es daher auch gekonnt haben, keineswegs damals selbstverständlich. Die Zeit, in der Jesus geboren wurde, war eine Zeit voller Erwartung und Hoffnung auf den Messias. Für uns kaum vorstellbar und weit weg, sehnte sich das jüdische Volk unter der Herrschaft der Römer nach dem Retter, dem Heiland, dem König der Juden, auf den die Schriften der Väter (unser Altes Testament) verweisen. Viele Frauen werden den Gedanken in sich getragen: wird es vielleicht MEIN Sohn sein...? Der Name Jesus, auf Deutsch: Heilbringer, war damals ein sehr häufig gewählter Vorname für neugeborene Jungen. Auch Maria wählt ihn, drückt vielleicht damit ihre Sehnsucht, ihre heimliche Frage aus. Niemand weiß, wie und wann Jesu Besonderheit für seine Umgebung zu erkennen war, die Geschichte vom zwölfjährigem im Tempel, der mit den Schriftgelehrten diskutiert ist genauso wie die Erscheinung des Engels Gabriel bei Maria nur eine viel später entstandene Legende.

Anders wäre auch nicht verständlich, warum Maria und ihre Familie Jesus schlicht und ergreifend als verrückt bezeichnen, als dieser nach der Taufe durch Johannes anfängt zu predigen. Sie versuchen, ihn wieder in die Gemeinschaft der Familie zurück zu holen, er aber entzieht sich, weist seine Mutter und Geschwister schroff zurück: nicht ihr seid meine Mutter und Geschwister, sondern, die welche meiner Predigt Glauben schenken. An diesem Tag fällt auch das bittere, aber nicht nur auf Jesus zutreffende Wort vom Propheten, der in seiner Heimatstadt nichts zählt.

Ich glaube, wir brauchen uns nicht zu fragen, wie das auf Maria gewirkt hat. Vermutlich längst Witwe, begleitet sie nur noch aus der Ferne den Weg ihres Sohnes. Bis sie dann an seinem Todestag unter dem Kreuz steht und trauert.

Doch dann, nach Ostern die überraschende Wende: Maria ist nach Pfingsten in der jungen christlichen Gemeinde zu finden, ebenso auch die Brüder Jesu, die bald eine wichtige Rolle in der sich entwickelnden Kirche spielen. Dann verliert sich ihre Spur, wie alt Maria geworden ist, weiß niemand...

Wer war also Maria? Sie war zunächst eine ganz normale jüdische Frau. Sie tat nichts Besonderes. Sie tat das, was von ihr als Frau und Mutter erwartet wurde. Aber wir können sicher mit Maria Jepsen, Bischöfin aus Hamburg sagen: "Weil Jesus so bedeutend war, konnte seine Mutter nicht ganz unbedeutend sein." Aber das konkrete Wie entzieht sich unseren Blicken.

Dennoch: Maria hilft uns sehr beim Verstehen des Wunders von Weihnachten. Gott kommt zu uns Menschen, in einem Kind kommt er uns nahe, er teilt das menschliche Leben. Die Kirche stand immer in der Gefahr, aus Jesus eine Art Halbgott zu machen, der eigentlich gar nicht "wirklich" Mensch war. Ein göttliches Wesen, bei uns zu Besuch. Dagegen hat schon die frühe Kirche, wie vorhin schon einmal gesagt, es im Konzil von Chalcedon auf die Formel gebracht: "wahrer Mensch und wahrer Gott". Diese Formel ist nicht einfach zu verstehen. Maria aber hilft uns, die menschliche Seite Jesu besser in den Blick zu bekommen. Jesus war Mensch wie du und ich, wurde geboren, gestillt, gewickelt, erzogen. Seine besondere Fähigkeit zu predigen und zu heilen, sein außerordentliches und nie vorher gesehenes Vertrauen auf Gott, seinen und unseren Vater, war und ist nicht Jesu Fähigkeit, sein Verdienst, sondern Geschenk Gottes gewesen. Aber die Erziehung dieses Menschen, das ist Maria´ Werk, das ist ihr bleibender Verdienst. An der Vorbereitung dieses Menschen hat sie ihren Anteil, bevor Gottes Geist Jesus in seinen Dienst nimmt. Gottes Ruf zu predigen und zu heilen, fällt bei Jesus auf fruchtbaren Boden. Wenn man so will, "zieht" Maria Jesus herunter auf die Erde, lässt ihn menschlich erscheinen. Und paradoxerweise entschwindet Maria im Lauf der Kirchengeschichte dann mehr und mehr der Erde und der eigenen Menschlichkeit, wurde zur Himmelskönigin, die eines Tages sogar ihre Himmelfahrt erlebt... Es ist so, als hätten die Menschen Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass Gott wirklich Mensch wird und uns nicht durch einen Halbgott erlöst...

An Maria wird deutlich: Gott braucht Menschen, um seine Botschaft in die Welt zu bringen. Er brauchte Maria, die Jesus zur Welt brachte. Gott braucht Menschen, die sich zur Verfügung stellen, manchmal auch ohne recht zu wissen, wo der Weg hingeht, manchmal auch mit großen Umwegen, und erst nach langer Zeit fügen sich die Mosaike zusammen.

Liebe Gemeinde, die Frage: Wer war Maria? bleibt letztlich offen. So richtig zu fassen bekommen wir sie nicht. Die Zurückhaltung auszuhalten, die die Evangelien in der Darstellung der Person der Maria üben, ist nicht leicht und ist nie leicht gefallen. So sind uns eine Fülle von Bildern entstanden, die die Lücke der fehlenden historischen Informationen gefüllt haben und noch immer füllen. Aber eine Frage gilt es zu beantworten: Wer ist denn Maria für mich? Was bedeutet sie mir, meinem Glauben? Wie und wobei hilft sie mir Jesus und sein Werk besser zu verstehen? Und bei der Beantwortung helfen und die Legenden, Mythen und Bilder schon, sie haben alle ihre Bedeutung und Berechtigung:

- die Jungfrauengeburt, Zeichen der Reinheit Jesu, verweist auf die Besonderheit der Botschaft Jesu, die nicht von dieser Welt ist, sondern ganz und gar von Gott her kommt;

- die Gottesgebärerin lenkt unseren Blick auf das Wunder, dass und wie Gott in Jesus präsent war, eine Tatsache, die letztlich nicht zu erklären ist;

- die Himmelskönigin betont die Rolle der Mutter auch für einen Menschen wie Jesus - denn wenn die Mutter Jesu in den Himmel gehoben würde, dann muss sie eine bedeutsame Frau gewesen sein, auch und gerade für Jesus-

Diese Bilder helfen uns, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wer ist Maria für mich? Mit dieser Frage können wir vor die sehr verschiedenen Darstellungen von Maria treten und überlegen: Was bedeutet diese Darstellung für mich, meinen Glauben, mein Verständnis von Maria, von Jesus, von Gott?

Diese Frage, liebe Gemeinde, kann nur jeder für selbst beantworten. Doch das, was wir über Maria wissen und sagen können, ihre menschliche Seite mag uns davor bewahren, Maria mit den vielfältigern Bildern der Geschichte zu verwechseln. Sie ist und bleibt Mensch und als diese Mutter Jesu.

Und für alles weitere gilt, was der Dichter Novalis so formuliert hat:

"Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt."

Amen.